Otto Schmidt Verlag

BAG 21.9.2016, 10 ABR 33/15 u. 10 ABR 48/15

Allgemeinverbindlicherklärungen der Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren des Baugewerbes sind unwirksam

Die in den Jahren 2008, 2010 und 2014 erfolgten Allgemeinverbindlicherklärungen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe sind unwirksam, da die gesetzlichen Voraussetzungen von § 5 TVG a.F. nicht erfüllt sind. In allen Fällen war die nach damaligem Rechtsstand erforderliche 50-Prozent-Quote nicht erreicht. In den Jahren 2008 und 2010 fehlte es überdies an einer Befassung des zuständigen Ministers bzw. der zuständigen Ministerin für Arbeit und Soziales mit der Allgemeinverbindlicherklärung.

+++ Der Sachverhalt:
Auf Antrag der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes hatte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) den Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe 2008, 2010 und 2014 gem. § 5 TVG in der damals geltenden Fassung für allgemeinverbindlich erklärt. Dies war jeweils mit Einschränkungen bezüglich des betrieblichen Geltungsbereichs ("Große Einschränkungsklausel") erfolgt.

Bei den Antragstellern handelt es sich überwiegend um Arbeitgeber, die nicht Mitglied einer Arbeitgebervereinigung sind und deshalb nur auf Grundlage der Allgemeinverbindlicherklärungen zu Beitragszahlungen herangezogen wurden. Sie vertraten die Auffassung, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung nicht vorgelegen hätten. Insbesondere hätten die tarifgebundenen Arbeitgeber der Baubranche nicht 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigt.

Das LAG wies die Anträge zurück. Die von ihm zugelassenen Rechtsbeschwerden hatten vor dem BAG Erfolg.

+++ Die Gründe:
Die Allgemeinverbindlicherklärungen sind allesamt unwirksam.

In den Jahren 2008 und 2010 fehlte es an einer Befassung des zuständigen Ministers bzw. der zuständigen Ministerin für Arbeit und Soziales mit der Allgemeinverbindlicherklärung. Bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen handelt es sich um einen Normsetzungsakt, der nach dem in Art. 20 GG verankerten Demokratieprinzip die Befassung des zuständigen Ministers für Arbeit und Soziales erfordert. Eine solche Befassung ist jedoch weder durch den damaligen Minister Olaf Scholz in Bezug auf die AVE VTV 2008 noch hinsichtlich der AVE VTV 2010 durch die seinerzeitige Ministerin Dr. Ursula von der Leyen erfolgt.

Darüber hinaus gibt es keine tragfähige Grundlage für die Annahme des Bundesministeriums Arbeit und Soziales (BMAS), dass zum Zeitpunkt des Erlasses der AVE VTV 2008, 2010 und 2014 in der Baubranche mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt waren. Insbesondere durfte die in der jeweiligen AVE vorgenommene Einschränkung des betrieblichen Geltungsbereichs - entgegen der Auffassung des BMAS - bei der Berechnung der 50-Prozent-Quote nicht berücksichtigt werden.

Die Feststellung der Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen wirkt zwar gem. § 98 Abs. 4 ArbGG für und gegen jedermann. Sie hat deshalb zur Folge, dass im maßgeblichen Zeitraum nur für tarifgebundene Arbeitgeber eine Beitragspflicht zu den Sozialkassen des Baugewerbes bestand. Andere Arbeitgeber der Baubranche sind nicht verpflichtet, für diesen Zeitraum Beiträge zu leisten. Rechtskräftig abgeschlossene Klageverfahren über Beitragsansprüche werden aber von der Feststellung der Unwirksamkeit nicht berührt; eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 580 ZPO ist insoweit nicht möglich.

Ob im Übrigen unter Beachtung der Verjährungsfristen wechselseitige Rückforderungsansprüche hinsichtlich erbrachter Beitrags- und Erstattungsleistungen bestehen und ob die Feststellung der Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen einer Vollstreckung von Beitragsansprüchen aus rechtskräftigen Entscheidungen entgegensteht, hatte der Senat nicht zu entscheiden.

+++ Der Hintergrund:
Die für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge regeln das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe. Bei den Sozialkassen handelt es sich um gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes. Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse erbringt Leistungen im Urlaubs- und Berufsbildungsverfahren, die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes zusätzliche Altersversorgungsleistungen, die jeweils in gesonderten Tarifverträgen näher geregelt sind. Zur Finanzierung dieser Leistungen werden nach Maßgabe des VTV Beiträge von den Arbeitgebern erhoben.

Durch die Allgemeinverbindlicherklärungen gelten die Tarifverträge nicht nur für die tarifgebundenen Mitglieder der Tarifvertragsparteien, sondern auch für alle anderen Arbeitgeber der Branche.

+++ Linkhinweis:
Die Volltexte der Entscheidungen werden demnächst auf den Webseiten des BAG veröffentlicht.

Für die Pressemitteilung des BAG in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 10 ABR 33/15 zu den AVE VTV 2008 und 2010 klicken Sie bitte hier.

Die Pressemitteilung des BAG in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 10 ABR 48/15 zur AVE VTV 2014 finden Sie hier.


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 22.09.2016 11:13
Quelle: BAG PM Nr. 50 und 51/16 vom 21.9.2016

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